Der Hengst vertreibt seinen Sohn oder greift ihn an – Wahrheit oder Narrativ?
Auf unseren Seminaren und Ausbildungen, wenn die Teilnehmer zu uns kommen, werde ich immer wieder nach dem Verhalten innerhalb der Pferderfamilie gefragt.
In der Zucht ist es gang und gäbe, die Hengste von ihrem Nachwuchs zu trennen, da der Hengst sonst seinen Sohn angreifen oder seine Tochter decken würde. Aber stimmt das?
Diese Frage und diese Aussage dazu sind deshalb so spannend für mich, weil sie auf keinerlei nachvollziehbarer Beobachtung beruhen. Es gibt in der Natur bei Pferden nicht den kleinsten Hinweis darauf, dass Väter ihre Söhne angreifen oder ihre Töchter decken. Man muss dazu sagen, dass der Nachwuchs in der Natur über das zweite Lebensjahr hinaus bei seinen Eltern bleibt. Den Grund hierfür erläutere ich in einem anderen Artikel.
Nehmen wir uns diese Frage jetzt mal detailliert vor, so beleuchten wir einmal das Verhalten in der Natur des männlichen Nachwuchses. Es wird hierbei immer wieder das Argument ins Feld geführt, dass die sich die Junghengste anderen Junghengsten anschließen. Das stimmt, aber bis hierhin ist noch immer nichts davon zu sehen, dass der Vater den Sohn angreift!
Was man hier vergisst, ist die Antwort auf ein weiteres Narrativ, das sich in der Pferdewelt hartnäckig hält. Der Sohn beginnt seine Mutter zu decken. Dafür gibt es keinen Hinweis in der Natur. Aber was hat das mit der Frage der Junghengste zu tun? Ganz einfach! Da der Junghengst, sobald er geschlechtsreif ist, NICHT seine eigene Mutter oder Schwester deckt, schließt er sich anderen Junghengsten an, um eine eigene Familie zu gründen. Das bedeutet, dass der Junghengst die initiative ergreift, um eine Familie zu gründen und eben nicht seine Mutter oder Schwester deckt. Das, was vielleicht manchmal so aussieht, als würde der Vater den Sohn vertreiben, beruht auf einem Missverständnis, Seitens der Menschen, die das beobachten!
Es gibt viele Narrative in der Pferdewelt, die wir akzeptieren, ohne zu hinterfragen oder tiefer nachzudenken. Wichtig ist, dass wir Pferdemenschen anfangen, wieder unsere Pferde und ihr Verhalten richtig wahrzunehmen, basiert auf Fakten und nicht nur das, was wir immer gehört haben.